Zukunft gestalten

Werte Mitbrüder im geistlichen Dienstamt, liebe Mitglieder des ACV, verehrte Festgäste, die Sie für die Vorstellung der Gedenkschrift nun zu unserer diesjährigen Mitgliederversammlung hinzugekommen sind, liebe Freundinnen und Freunde der Kirchenmusik,

nachdem wir uns im Rahmen unserer diesjährigen Mitgliederversammlung in einer ersten Arbeitseinheit mit den Folgen und Herausforderungen der Corona-Pandemie beschäftigt haben, steht nun mit der Präsentation der Gedenkschrift für Wolfgang Bretschneider durch Dr. Barbara Wieland ein weiterer Blick zurück auf der Tagesordnung, der aber – wie die Arbeitseinheit zu Corona auch – gleichzeitig die Perspektive in die Zukunft hinein öffnen soll. So möchte ich dem Gedenken an unseren im März verstorbenen Ehrenpräsidenten Wolfgang Bretschneider folgendes Zitat aus seiner ACV-Festrede von 2018 voranstellen: »Wenn wir die Kirchenmusik nicht zur Ideologie machen oder sie im Plusquamperfekt ansiedeln wollen, dann müssen wir sie in unsere Zeit einpflanzen.« Die nun folgende Vorstellung seiner Gedenkschrift bietet Gelegenheit, Wolfgang Bretschneider und sein Wirken zu würdigen – vor allem aber zu erkennen, wie unverändert relevant seine Impulse für uns sind und bleiben. Wir sind (um es mit den Worten von Papst Franziskus zu sagen, die er an die Delegation des ökumenischen Patriachats von Konstantinopel 2021 bzw. an die Jugendlichen in Palermo 2018 gerichtet hat) dazu aufgerufen, »eine Sichtung vorzunehmen, eine Unterscheidung zu treffen, innezuhalten, um abzuwägen, was von all dem, was wir tun, bleibt und was vergeht«, und die »Zukunft [zu] gestalten«.

Die Kirchenmusik
gehört ins Hier und Jetzt

Die Kirchenmusik gehört ins Hier und Jetzt. Das war für Wolfgang Bretschneider immer völlig klar. Zugleich hat er ebenso klar die Herausforderungen gesehen und angesprochen, die unsere Zeit und unsere Welt an die Kirche und ihre Kultur stellen. Unser kirchliches »Hier und Jetzt« sieht sich mit einer heftigen Dynamik konfrontiert – und das muss uns alle nachdenklich machen.

Der Vertrauensverlust
der katholischen Kirche

Die gesellschaftliche Diversität bringt auch Individualisierung und Isolation mit sich. Davon bleiben die Kirchen natürlich nicht unberührt. Es ist für mich nicht die Überlegung, ob die Kirche die Kirchenmusik braucht – es steht außer Frage, dass das der Fall ist. Derzeit schwieriger zu beantworten ist hingegen, ob die Kirchenmusik die (oder besser: diese) Kirche braucht. Natürlich lässt sich ein Weihnachtsoratorium nicht allein aufführen, eine Ostermesse nicht allein feiern. Doch die heutige Übernahme vieler geistlicher Werke in profilierte Räume der bürgerlichen Musikkultur zeigt uns, dass es kein kirchliches Exklusivrecht an sakraler Musik gibt, sondern dass es um ein religiöses Erleben von Musik in kultivierten, in kulturellen Räumen, in Räumen der Begegnung geht. Wenn wir also sagen: »Wir brauchen die Kirche«, so lautet für mich die zentrale Frage: Welche Kirche braucht es? Kirche ist kein »heiliger Rest«, kein harter Kern von frommen, sich für exklusiv haltenden Gläubigen oder von – um mit dem dieses Jahr verstorbenen iranisch-deutschen Schriftsteller SAID zu sprechen – »Gottesbesitzern« und damit Sakramenten- und Spiritualitätsverwaltern, sondern eine offene und dialogorientierte Gemeinschaft von betenden und singenden, suchenden, fragenden und feiernden Menschen.
Das persönliche Versagen, die strukturellen Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen und die auch vor den Kirchenmusik-Ensembles nicht haltmachen, das oftmals zweifelhafte Verhalten von Vertretern der kirchlichen Hierarchie und die Verhärtung in systemisch bedingten Fehlentwicklungen: All das hat massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit kirchlicher Verkündigung hervorgerufen, hat das Vertrauen in die Kirche regelrecht zertrümmert und den Zugang zu ihr damit beinahe unmöglich gemacht.

Entfremdungen

Viele empfinden das als eine Entfremdung der Kirche von ihrem eigentlichen biblischen Auftrag. Das wiederum unterstützt problematische Tendenzen, denn die Idee: »Ich brauche für meinen Glauben keine Kirche«, hat sich als falsch herausgestellt. Die Beziehung zu Gott will im Alltag auf viele unterschiedliche Arten, eben auch in Gemeinschaft – im Gebet, gesungen, gesprochen oder gespielt – gepflegt werden. Die Zahl der Kirchenmitglieder nimmt ab, und das nicht nur aus demografischen Gründen: Lebten 1990 in Deutschland noch 79,753 Millionen Menschen, von den 28,525 Millionen (= 35,76 Prozent) katholisch waren, so waren es 2020 83,155 Millionen in Deutschland lebende Personen, von denen nur noch 22,193 Mio. (= 26,7 Prozent) der katholischen Kirche angehören. Es ist persönlich schmerzhaft zu sehen, wie viele Menschen nicht mehr nur in Distanz zur Kirche und zum Glauben leben, sondern die Kirche dezidiert und nicht ohne nachvollziehbare Begründungen ablehnen, bzw. an gar keinem Dialog mit ihr interessiert sind. So wachsen auch immer weniger Menschen in kirchlicher und damit auch mit kirchenmusikalischer Praxis auf. All das ist deutlich spürbar in der Kirchenmusik, auch im Allgemeinen Cäcilien-Verband. Kirchenmusik ist Teil dieser, unserer Gesellschaft. Die oben beschriebenen schwindenden Mitgliederzahlen führen zu einer Verknappung unserer Ressourcen, personell wie finanziell. Die Anforderungen an Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker steigen fortlaufend, nicht zuletzt dadurch, dass immer mehr Aufgaben neben- oder ehrenamtlich erfüllt werden müssen. Der Vertrauensverlust gegenüber kirchlichen Institutionen bedeutet auch, dass Strukturen misstrauischer beäugt und strenger überprüft werden: Nicht wenige Kinderchorleiterinnen und -leiter, die in der Corona-Pandemie große Kreativität entwickelt haben, um ihre Ensembles während dieser Zeit zusammenzuhalten, berichten, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr kirchlichen Gruppen anvertrauen wollen. Der vielfache Missbrauch hat das Vertrauen nachhaltig zerstört. Wir möchten und müssen dazu beitragen, dieses Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Was können wir aus dieser Situation aus Wolfgang Bretschneiders Anregungen mitnehmen auf unseren Weg?

Was ist das Erbe
Wolfgang Bretschneiders?

Aus Bretschneiders Impulsen um die inhaltliche Ausrichtung der Kirchenmusik können wir viel für die Anforderungen der Zeit mitnehmen. Er führte den Satz »Das Herz der Kirche schlägt im Gottesdienst« weiter: »Das Herz des Gottesdienstes schlägt in der Musik.« Für mich heißt das: Wo musiziert wird, lebt die Kirche. Musik ist lebendig. Musik ist Gebet. Musik ist Beziehung – Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen und nicht zuletzt auch Beziehung zu sich selbst. Musik bringt Menschen zusammen. Musik ist Ausdrucksform unserer Pluralität – unserer Diversität. Musik ist das schlagende Herz des Gottesdienstes und damit eine Herzkammer der Kirche. Für viele ist Musik der erste spirituelle Anknüpfungspunkt zur Kirche, und für eine steigende Zahl von Menschen heute ist sie der letzte Verbindungsfaden, mit dem ihr Leben an die Kirchengemeinde anknüpft. Dieser Faden darf nicht abreißen!
Zugleich ist die Kirchenmusik auch eine Tür, die weit offenstehen soll – eine Tür, die unterschiedliche Bereiche markiert, ohne sie zu trennen. Es ist nicht zuletzt Wolfgang Bretschneiders Verdienst, dass unser Verband (ACV) als Vertreter der katholischen Kirchenmusik heute in einem intensiven Austausch mit den kulturell und politisch relevanten gesellschaftlichen Feldern steht. Nichts wäre tödlicher als eine Isolation der Theologie, der kirchlichen Kultur, der Kirchenmusik.
Ein zweites Motiv findet sich immer wieder im Werk Wolfgang Bretschneiders: Ostern. Häufig hat er Briefe mit dem Wunsch »Bleib österlich gestimmt!« beendet, was folgerichtig auch dazu führte, die Gedenkschrift so zu übertiteln. Das ist ein Aufruf zur ständigen Erneuerung. Für uns als Verband heißt es: der Aufruf, Kirchenmusik immer wieder neu mit Leben zu füllen, sie dem Museum zu entreißen, in die Zukunft zu schauen und einen frühlingshaften Aufbruch zu wagen. Damit kann Kirchenmusik ihre Relevanz erweisen – weit in unsere Gesellschaft hinein. Ostern gibt uns den Mut und die Kraft dazu.
Mit Blick auf die letzten Jahre, auf das Erbe Wolfgang Bretschneiders, komme ich zu der Conclusio: Der Allgemeine Cäcilien-Verband ist inhaltlich mit dem Rüstzeug ausgestattet, das es braucht, um den Verband in die Zukunft zu führen.

Der ACV auf dem Weg in die Zukunft

Schon vor 30 Jahren wurden viele Probleme erkannt, benannt und gezielt angegangen. Am 25. September 1991 erschienen unter dem Titel Die kirchenmusikalischen Dienste »Leitlinien zur Erneuerung des Berufsbildes«. Nächstes Jahr blicken wir zudem auf die Verabschiedung der Musikinstruktion Musicam sacram vor 55 Jahren zurück. Die Erinnerung an diese Daten eröffnet die Gelegenheit, auf das bereits Geschaffte zurückzublicken. Gleichzeitig drängt sie uns zur Erkenntnis, dass ein stetiger Reformauftrag bleibt. Damit sollten, ja müssten wir auch diejenigen, die seinerzeit die Leitlinien des kirchenmusikalischen Dienstes verabschiedet haben, auf ihre damalige Selbstverpflichtung hinweisen: Es gilt, die deutschen Bischöfe an die in den Leitlinien skizzierten Aussagen zu erinnern und letztere für die veränderte Gestalt der Kirche von morgen und übermorgen fortzuschreiben.
Wir stehen am Anfang eines fortwährenden und gravierenden Reformprozesses unseres Verbands. Die neue Satzung stellt sicher, dass unsere Strukturen auf Rechtssicherheit gegründet sind, sodass der ACV in der nächsten Zeit handlungsfähig ist. Die Leitlinien zur Erneuerung des kirchenmusikalischen Berufsbilds bleiben Impulsgeber in einem sich dramatisch wandelnden kirchlichen Umfeld. Für den ACV als Dachverband der deutschen katholischen Kirchenmusik gilt es, uns so aufzustellen, dass wir unserer Rolle als Vertreter gegenüber staatlichen, religiösen und zivilgesellschaftlichen Stellen gerecht werden. Stabile, verlässliche und nachhaltige Strukturen müssen gegebenenfalls neu geschaffen und etabliert werden, die dem Verband helfen, effektiv arbeiten und zugleich verlorenes gesellschaftliches Vertrauen in die Kirche zurückgewinnen zu können.
Gleichzeitig müssen wir damit umgehen, dass es immer weniger Menschen mit Bezug zur Kirche gibt. Die Knappheit an menschlichen Ressourcen ist jetzt schon deutlich gravierender als der finanzielle Mangel, der sich in näherer Zukunft auswirken wird. Beides ist wie überall in der Kirche auch im Verband mit seinem ehrenamtlichen Vorstand deutlich spürbar. Strukturen werden zunehmend von Ehrenamtlichen getragen, die mit großer Hingabe und Begeisterung Kirchenmusik erlebbar machen. Musikerinnen und Musiker sind Träger christlicher Kultur. Aber es ist auch klar: Ehrenamt ist kein Hauptamt. Die Leitlinien zur Erneuerung des kirchenmusikalischen Dienstes setzen hierfür wichtige Akzente. Wir müssen wieder stärker lernen, mit unseren Ressourcen hauszuhalten. Wir sind dazu aufgerufen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es ist notwendig, Prioritäten zu setzen und uns nicht in den Kleinigkeiten des Alltags zu verausgaben. Und immer wieder müssen wir die Frage aufwerfen: Was erwarten die Menschen von der Kirchenmusik, was brauchen sie und wie können wir effektiv helfen?
Kirchenmusik darf, nein muss ein deutliches Zeichen der Zuversicht sein – ein Medium, österlich gestimmt zu bleiben.

Marius Schwemmer

Bild © ACV

Bitte geben Sie die Zeichenfolge in das nachfolgende Textfeld ein

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.