Verleihung der Orlando-di-Lasso-Medaille an Carl Rütti

Wer ist »Orlando di Lasso«? Diese Frage haben Sie sich vielleicht auch gestellt, da ich vermute, dass den meisten von Ihnen »Rütti« geläufiger ist als »di Lasso«. Wer ehrt hier also wen? Kommt nun Carl Rütti dank Orlando di Lasso zu neuen Ehren oder verhält es sich umgekehrt?

Von beiden ist ein Englandaufenthalt verbürgt, wenn auch mit unterschiedlichen Resultaten. 22 Jahre alt und als Musiker und Komponist bereits allseits geachtet, geriet Lasso vor 460 Jahren in ein Gewirr von Intrigen, wobei die Reise gar mit der kurzzeitigen Verhaftung seines Freundes unrühmlich geendet haben soll. Von Carl Rüttis Aufenthalt, vor knapp 40 Jahren in London, kennen wir weder Intrigen noch Verhaftungen. Wir wissen aber um die ihn prägenden musikalischen Erlebnisse und Eindrücke, die ihn zur musikalischen Komposition beflügelten. In seiner Biografie verweist Carl auf diesen Studienaufenthalt und dieser wird auch auf dem Hintergrund der unterschiedlich verlaufenen Musikgeschichte von England und dem deutschsprachigen Festland tatsächlich eminent. Während England eine kontinuierliche Musikentwicklung aufweist, wird die Entwicklung im deutschen Sprachraum vom harmonikalen Bruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmt. Einige Stichworte: Zwölftonmusik, Reihentechnik, Klangabgrenzungen, sprich Spaltklangideale. Diese Parameter galten hierzulande als Kompositionsprinzip. Ergänzend dazu müssen historisch auch die Einwirkungen der beiden Weltkriege und liturgiegeschichtlich für die katholische Kirche das II. Vatikanische Konzil mit berücksichtigt werden.

Bei seinem einjährigen Englandaufenthalt lernte Carl Rütti die Klangkultur der englischen Chöre kennen, die ihn mit ihrer hellen, geraden, agilen und leicht wirkenden Stimmgebung faszinierten. Auch die Tradition der anglikanischen »Kathedralmusik«, die zur altklassischen Vokalpolyphonie einen Schwerpunkt bei den romantischen und nachromantischen Komponisten setzt (wie Hubert Parry, Charles Villiers Stanford, Herbert Howells), zog ihn in Bann. Für diese Klangsinnlichkeit, die Filigranes wie Majestätisches in sich vereinigt, begann Rütti zu schreiben. Er machte sich auf der Basis dieser Ideale und Traditionen auf seinen eigenen Klangweg. – Heute wage ich mit Blick auf Rüttis Personalstil zu behaupten, dass die englische Musikgeschichte hier, bei uns, weiter geschrieben worden ist, wobei diese aber mittlerweile auch zu unserer eigenen zählt.

Rüttis Musik war in unseren Breitengraden neu. Bei der Rückkehr aus London waren unsere katholischen Kirchenchöre emsig mit der Umsetzung der Konzilsbestimmungen beschäftigt. (Dürfen wir noch Mozart und Hilber singen? Sollen wir? Latein ist ja »out«. Ist nun alles deutsch und wie viel mit der Gemeinde? Und jetzt gar noch »Jazzmessen«?) Die für die Liturgie tätigen Komponisten hatten sich zum an und für sich begrüßenswerten Motto »Der neue, nachkonziliare Messordo, braucht auch neue Musik« ihre eigene, eingangs erwähnte Tonsprache, zurechtgelegt – eine Tonsprache, die von unseren Kirchenchören in allen Facetten von Gutwilligkeit bis Unverständnis beantwortet wurde. Geliebt wurde sie nicht.

Die offizielle Kirchenmusikpresse beachtete Rüttis Musik kaum. Sie wäre in der Bewertung der damaligen doch sehr eng gefassten Kriterien von »Neuer Musik« durchgefallen. Ähnliches hatte bereits der Joner Kirchenmusiker Paul Krapf erfahren (er starb vor zwei Jahren), als er in den späten 60er-Jahren die »Kindermesse« von Paul Burkhard mit initiierte. Die damals tonangebende Kirchenmusikgeneration verlor zu dieser Messe kein Wort. Aus ihrer Sicht genügte Burkhards Musik den künstlerischen Anforderungen der Liturgie nicht, also schwieg man sie aus. Denn Burkhard hieß Willy, nicht Paul.

Nun, es liegt mir fern, jene Komponistengeneration zu beurteilen. Ich kenne die damaligen Beweggründe und die kompositorisch-liturgischen Ansätze und mich überzeugen mehrere der damals entstandenen Werke. So stelle ich heute auch mit Bedauern fest, dass viele dieser Werke verschwunden, quasi verdunstet, sind.

Carl Rütti komponierte – nicht aus Trotz, sondern aus einem inneren Antrieb heraus – Weltliches, Geistliches, Liturgisches und fand bald nicht nur ein breites Publikum, sondern auch viele Auftraggeber. Ähnlich wie Orlando di Lasso, der sich zunächst als sogenannter »Theatermusiker« einen Namen machte, dann einen verwunderlichen Schwenk hin zur geistlichen Musik unternahm und es auf beachtliche 70 Messen, auf über 100 Magnificat und zu anderem mehr brachte. Verwunderlich war dies deshalb, da fürs Geistliche zu seiner Zeit der bedächtigere Giovanni Pierluigi da Palestrina zuständig war.

Apropos »Palestrina«: Auch zu seinen Ehren schufen die Kirchenmusikverbände von Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Medaille. Um hier aber keine weitergehenden Erwartungen zu schüren, lieber Carl, ist die Palestrina-Medaille für Chöre, nicht für Personen, bestimmt. »Deine« Orlando-di-Lasso-Medaille ist somit tatsächlich die bedeutendste Auszeichnung, die von den drei Landesverbänden an Personen vergeben wird, die sich um die Kirchenmusik besonders verdient gemacht haben. So darfst du dich in eine Reihe mit John Rutter und dem im September 80 Jahre alt werdenden Arvo Pärt stellen, die kürzlich ebenfalls mit dieser ehrenvollen Auszeichnung bedacht wurden. Wer ehrt wen? Rutter – Pärt – Rütti, sprachlich, wie musikalisch ein schönes Dreiergespann!

Als Pianist schreibst du Werke für Klavier, als praktizierender Kirchenmusiker Werke für Chöre und Orgel, dann für die Blasmusik, für Orchester, Kammermusik, Solokonzerte, für Kleinbesetzungen, für Großbesetzungen, gar 40-stimmig, Kombinationen mit Alphorn, Harfe, Schlagwerk, abendfüllende, auch szenische Werke u. v. m. In deinen gesamt über 150 Werken, die zusammen gegen 60 Stunden Musik ergeben, finden sich nahezu alle Formen und Gattungen.

Du findest die musikalische Sprache und den Ausdruck für unsere Kirchenchöre, aber auch die passenden Anforderungen für Wettbewerbsstücke, sei es für die Blasmusik in den verschiedenen Stärkeklassen oder für professionelle Chöre. Und dann – ich weiß es aus den Erfahrungen unserer Zusammenarbeit: Du liebst Vorgaben. In den Grenzen von Besetzungen, Schwierigkeitsgraden, Texten und allenfalls der Liturgie wirst du erst recht kreativ und schaffst in deiner Tonsprache, deine Musik, deine Formen, deine Werke, die uns derart faszinieren.

Intensiv durfte ich dies mit dir zusammen drei Mal erleben:
Das erste Mal mit der Gottesdienstmusik Christus Lebensbaum, dem Auftragswerk der Caecilia-Musikgesellschaft Rapperswil, wo ich mir eine dramaturgisch-liturgisch anspruchsvoll durchgestaltete Gottesdienstmusik wünschte. Im gesamten deutschsprachigen Raum steht Christus Lebensbaum heute für die intensivste Verbindung von Wort und Musik auf die Form der nachkonziliären Messfeier.

Im zweiten Werk, im Fries der Lauschenden für einstimmigen Chor und konzertierende Orgel, bewiesest du wiederholt deine Meisterschaft in der klanglichen Umsetzung von Textbildern und hier auch zusätzlich der Figuren von Ernst Barlach. Zusammen mit deiner mehrfachen Textpartnerin, mit der vor vier Jahren verstorbenen Benediktinerin Silja Walter, wart ihr beide während Jahren ein kongeniales Duo. Der heute Abend nachfolgende Zyklus Tanz des Gehorsams gibt davon Ausdruck.

Unsere dritte Tat galt deinem groß angelegten Requiem für Soli, Doppelchor und Orchester, das ich unmittelbar nach der Uraufführung in Winchester als Erstaufführung in der Schweiz leiten durfte. Mich begeistern die musikalischen Linien und Entwicklungen, die dank der großer Melodiephrasen und auch der mehrfachen, rhythmischen Überlagerungen unglaublich spannungsreich auf ein Ziel hin zulaufen. Eine deiner ganz großen Stärken! Das Requiem stelle ich nahtlos in die Reihe der Requiemsvertonungen von Gabriel Fauré und Maurice Duruflé. Kurz: Weltliteratur eben.

Dein Schaffen ist bekannt – auch hier in Jona. Wohl bekannter als die Werke Lassos, der hier nun dank dir auch zu seinen Ehren kommt. Du schriebst größere Werke für die Feldmusik Jona, für den Musizierkreis am See und das kürzere Auftragswerk Jona mitenand. Dein Schaffen ist bekannt – jede Woche werden irgendwo auf der großen, weiten Welt Rütti-Werke interpretiert.

Und dein Werk wächst und wächst und wächst. Ich staune über die Qualität der Werke und über deine enorme Schaffenskraft. So schreibst du momentan an einer Oper mit, dann folgt eine abendfüllende Vesper für Chor und sechs Alphörner und auch ein großes Oratorium zum Luther-Jahr in Göttingen steht bald an.

Und – auch die Kirchenmusikverbände haben dich nun doch seit einigen Jahren entdeckt und nehmen sehr regen Anteil an deinem umfangreichen Tun. Thomas Halter, der Präsident des Schweizerischen Katholischen Kirchenmusikverbands, darf dir heute Nacht auch im Namen der beiden Vorsitzenden von Deutschland und Österreich, der beiden Professoren Wolfgang Bretschneider und Franz Karl Prassl, die Orlando-di-Lasso-Medaille verleihen. Sie ehren dich und danken dir für dein innovatives kirchenmusikalisches Schaffen, sicherlich auch in der Vorfreude auf noch viele weitere Werke. Lieber Carl – bleib fit, mach weiter, herzliche Gratulation!

… und noch ein Letztes: Lasso war in England, Rütti war in England, übermorgen Montag fährt Thomas Halter nach England, für zwei Monate. Mal sehen, was er dann alles bei uns so anstellen wird!

Martin Hobi
Laudatio am 3. Mai 2015 in der Kirche Maria Himmelfahrt Jona (CH)

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